- Was ist „sexualisierte Gewalt“?
Darunter fallen laut „Gesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ der Landeskirche nicht nur Straftaten, sondern alle Verfehlungen, Übergriffe und Grenzverletzungen in diesem Bereich.
- Was sind die zentralen Ergebnisse der Studie?
Die Zahl der durch die Studie ermittelten Fälle liegt EKD-weit deutlich höher als bisher bekannt. Die Forschenden sprechen von 1.259 Beschuldigten und 2.225 Fällen, weisen aber darauf hin, dass das nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ sei.
Es gibt keine „klassischen Tatkonstellationen“. Im Bereich Diakonie ist der Tatkontext in aller Regel ein Heim. Im Bereich Kirche kommen die Beschuldigten aus verschiedenen kirchlichen Professionen, sind Haupt- und Ehrenamtliche, 19 % sind Pfarrpersonen.
Als Risikofaktoren werden asymmetrische Machtverhältnisse, unklares Amtsverständnis, Diffusität in Seelsorgesituationen, Missbrauch von Theologie als Manipulationsmittel und die unklare Rolle des Pfarrhauses genannt.
Betroffene Personen beklagen bei der Aufarbeitung, dass ihnen kein Gehör geschenkt, ihnen die Glaubwürdigkeit abgesprochen und sie zwischen den Instanzen hin- und hergeschoben oder als „unbequem“ ganz abgelehnt wurden. Viele haben den Eindruck, dass der „Schutz der Institution“ den kirchlichen Ansprechpersonen mehr wert war als ihre Missbrauchsgeschichte.
In den Bereichen Aufarbeitung, Intervention und Prävention sehen die Forschenden eine Hürde in der föderalen Struktur und empfehlen gemeinsame und verbindliche Standards innerhalb der 20 Landeskirchen. Wichtig ist ihnen, dass auf allen kirchlichen Ebenen ein Problembewusstsein herrscht.
- Wie gehen unsere Landeskirche und unsere Diakonie mit dem Thema sexualisierte Gewalt um?
Seit November 2019 gilt das „Gesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ für die Evangelischen Kirche der Pfalz und das Diakonische Werk Pfalz mit all seinen Trägern (https://www.kirchenrecht-evpfalz.de/document/47280).
Damit sind auch verbindliche Weichen zu Intervention und Prävention gestellt: Verpflichtende Schulungen für Mitarbeitende und Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit, Schutz- und sexualpädagogische Konzepte in unseren Kitas, Vorlage erweiterter Führungszeugnisse durch alle Beschäftigten der Landeskirche, alle unsere Presbyter*innen und Ehrenamtlichen.
Seit 2010 gibt es in der Evangelischen Kirche der Pfalz eine Ansprechperson für Fälle sexualisierter Gewalt (https://www.evkirchepfalz.de/begleitung-und-hilfe/missbrauch-melden/).
2019 hat die „Unabhängige Kommission“ (https://www.evkirchepfalz.de/fileadmin/public/
internet/01_aktuelles/Pressebilder/2021/Grundsa__tze_und_Verfahren__Stand_November_2020_.pdf) ihre Arbeit aufgenommen, an die sich betroffene Personen in ihrem Anspruch auf Anerkennung erlittenen Unrechtes wenden können.
- Wie geht es nach der ForuM-Studie weiter?
Landeskirche und Diakonie werden die pfälzischen Strukturen im Lichte der Studie kritisch hinterfragen. Bei den Schutzkonzeptentwicklungen für all unsere Einrichtungen, Dienste und Presbyterien müssen wir schneller werden. Alle Verantwortlichen auf allen Ebenen sind gefragt. Die Landessynode hatte 2020 zur Unterstützung Personal und Mittel bereitgestellt, die jedoch höchstwahrscheinlich für eine konsequentere Umsetzung nicht ausreichen werden.
Gemeinsam mit der Evangelischen Kirche in Baden und dem Diakonischen Werk Baden werden wir eine Unabhängige Aufarbeitungskommission ins Leben rufen. Die Gemeinsame Erklärung dafür zwischen Baden, Pfalz und der Unabhängigen Beauftragten am Sitz der Bundesregierung (UBSKM) wurde Anfang Februar 2024 unterschrieben. Ein erstes gemeinsames Betroffenenforum fand bereits im März 2023 statt, das nächste wird im Sommer folgen.
- An wen können sich Betroffene wenden?
Ansprechpersonen für Fälle sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche der Pfalz und ihrer Diakonie sind:
Ivonne Achtermann
Telefon: 06232/667-153, E-Mail: ivonne.achtermann@evkirchepfalz.de
Kornelia Hmielorz
Telefon: 06232/664-201, E-Mail: kornelia.hmielorz@diakonie-pfalz.de
Zentrale, kostenlose und anonyme Anlaufstelle: .help.
Unabhängige Information für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie, Telefon: 0800 5040 112
Terminvereinbarung für telefonische Beratung: Mo 16.30 Uhr bis 18 Uhr, Di bis Do 10.00 Uhr bis 12 Uhr oder per E-Mail: zentrale@anlaufstelle.help
Persönlicher Einwurf von Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst
Wenn sich Abgründe auftun…
Seit anderthalb Jahren bin ich auf EKD-Ebene mit dem Thema „sexualisierte Gewalt“ befasst, arbeite im „Beteiligungsforum“ mit, wo betroffene Personen und kirchliche Beauftragte gemeinsam an den einzelnen Fragen rund um das Thema arbeiten – definitiv also kein Neuling mehr. Dennoch ist mir im Rahmen der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ das Entsetzliche noch einmal so richtig unter die Haut gefahren. Entsetzliches, was Menschen im Raum von Kirche und Diakonie widerfahren ist. Hilflose Kinder in Heimen, gequält und gepeinigt ohne jede Chance, sich zu wehren. Junge Menschen auf der Suche nach Liebe und Vertrauen, bitterlich ausgenutzt und fürs Leben beschädigt. Alles im Schutzraum Kirche, im Schutzraum Diakonie. Ich schäme mich.
Ich schäme mich auch dafür, dass es uns nach Jahren und Jahrzehnten nicht gelingt, Mauern des Schweigens zu durchbrechen, diese Geschichten ertragen zu können, die Tragweite ernst zu nehmen. Es sind eben keine Einzelfälle, es ist nicht geschichtlich abgehakt, es findet nicht nur woanders statt. Es sind reale Menschen mit realen Geschichten und einem realen Leben, an denen wir uns schuldig gemacht haben. Auf allen Ebenen, in allen Bereichen unserer Kirche und Diakonie. Und es sind deutlich mehr, als wir gedacht haben.
Jede Geschichte trifft ins Mark. Nicht nur, weil sie geschehen ist. Sondern weil sie nicht gehört wurde. Diskreditiert wurde. Bagatellisiert wurde. Missbrauch anderer Art. Schon wieder ausgeliefert, schon wieder allein. Viele bis heute.
Wir legen so viel Wert auf Gemeinschaft. Aber wer nicht passt, wird ausgeschlossen. Berichten Betroffene. Sie berichten auch, wie schnell sie vergeben sollten. Dem Täter. Der dann noch nicht einmal zur Rechenschaft gezogen wurde. Sie berichten von einem Umfeld, das gewusst haben könnte, aber nicht wissen wollte. Und so weiter. Und so weiter.
All das beschäftigt mich, wird uns beschäftigen. Über 800 Seiten umfasst die Studie und schreibt uns so vieles ins Stammbuch, was anders werden muss. Was sich nicht wegreden, abhaken, ignorieren lässt. Wegen uns als Kirche. Wegen unserer Verantwortung vor Gott. Aber vor allem wegen der Verantwortung all denen gegenüber, die ein Recht darauf haben, Konsequenzen zu erleben.
Deshalb brauchen wir Zahlen, Daten, Fakten. Auf jeden Fall. Aber vor allen Dingen brauchen wir jetzt Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit, konkrete Maßnahmen und immer den Blick auf betroffene Personen. Seit Jahren arbeiten wir daran. Aber wir werden mehr tun müssen. Wir alle. Wenn wir wollen, dass Kirche nie wieder Hölle, sondern Heimat ist. Für jeden Menschen.